Französische Kolonialzeit



Diesen desolaten Zustand des Landes nutzen jetzt die europäischen Imperialisten. Französische und britische Banken gewähren Kredite, französische Ingenieure und Lehrer kommen ins Land, bauen erste Fabriken und moderne Hochschulen auf. Durch die verschwenderische Hofhaltung der Beys gerät das Land mehr und mehr in die Abhängigkeit von Europa, vorrangig von Frankreich, das auch das Nachbarland Algerien zwischen 1830 und 1847 unterwerfen kann. Schließlich sind die Beys bei den Europäern so hoch verschuldet, dass sie deren Forderungen unbedingte Folge zu leisten haben

1878 fällt die Entscheidung. Großbritannien und Deutschland (die anderweitig abgefunden werden), treten ihre Ansprüche auf tunesisches Gebiet an Frankreich ab.

Grenzverletzungen zu Algerien durch aufständische Nomadenstämme und die Plünderung eines französischen Schiffes bieten den Franzosen den Vorwand für die Intervention. Am 12. 4. 1881 marschieren 32 000 Soldaten aus Algerien nach Tunesien ein. Der militärisch hoffnungslos unterlegene Bey muss am 12. 5. den Protektoratsvertrag trotz starkem Widerstands der zentraltunesischen Stämme und des Südens unterzeichnen, der Frankreich als "Schutzmacht" anerkennt. Der Bey bleibt offiziell Staatsoberhaupt, jedoch mit stark eingeschränkten Machtbefugnissen. Alle wichtigen Staatsposten unterstehen der französischen Kontrolle und werden mit französischen Beamten besetzt. Der Norden behält zwar seine traditionellen Sippen- und Stammesführer, der rebellische Süden jedoch untersteht einer Militärverwaltung.

Zu den ersten Maßnahmen der Kolonialmacht zählt ab 1885 die Enteignung allen nicht registrierten Grundbesitzes (z.B. die Ländereien der Nomaden) Diese Gebiete werden zu Staatsbesitz erklärt und den zahlreichen französischen und italienischen Siedlern zugeteilt. 1911 leben in Tunesien schon 46 000 Franzosen, 86 000 Italiener und 12 000 Malteser. Die Franzosen verbessern die Infrastruktur durch den Ausbau von Straßen, Häfen und der Eisenbahn, am Rande der Städte entstehen große Neubauviertel nach französischem Vorbild, Bergwerke und Minen werden von französischen Konzernen betrieben, Klöster, Schulen und Universitäten werden gebaut und auf dem Land entstehen neue regionale Verwaltungs- und Marktzentren.

Der Erste Weltkrieg (1914-1918) unterbricht die Kolonisierung. An der Westfront kämpfen 80 000 Tunesier auf der Seite der Franzosen, fast 11 000 fallen! Nach dem Krieg aber schreitet die Kolonisierung wieder kräftig voran und wiederum sind es hauptsächlich die französischen Zuwanderer, die davon profitieren. An Produktionsziffern und Straßenkilometern gemessen erlebt Tunesien nun einen gewaltigen Aufschwung, gleichzeitig entstehen aber enorme soziale Probleme. Die alteingesessenen Kleinbauern und Nomaden werden auf unergiebige Randgebiete wie die kargen Steppen- und Gebirgsregionen verdrängt, was zur Verarmung der tunesischen Landbevölkerung führt. Andere Bauern geraten durch überzogene Pacht- und Nutzungsverträge in die völlige Abhängigkeit der wenigen Großgrundbesitzer. Gleichzeitig bewirken billige Massenimporte den Niedergang von traditionellem Handwerk und Handel. Durch all diese Entwicklungen kommt es zu Landfluchten und dementsprechend wachsen die Slums der Städte. Die Kolonialzeit führt die Masse der Tunesier in die Verelendung. Eine kleine Anzahl wohlhabender bzw. einflußreicher tunesischer Bürger genießt zwar gewisse Privilegien, die überwiegende Zahl der einfachen Landbevölkerung wird aber immer ärmer und entrechteter. Eine allgemeine Schulpflicht gibt es nicht. In den modernen Oberschulen, zu denen nur die einheimische Oberschicht Zugang hat, soll eine junge, von französischen Idealen geprägte Nachwuchselite herangebildet werden. Dies alles zusammen bildet den Nährboden für die tunesische Unabhängigkeitsbewegung, allmählich formiert sich eine organisierte Opposition.

Doch zunächst bringt der Zweite Weltkrieg (1939-1945) einen tiefen Einschnitt in die französische Kolonialzeit, Tunesien wird zu einem zentralen Kriegsschauplatz in Nordafrika. Im Süden des Landes wird eine Verteidigungslinie gebaut (die Mareth-Linie), zur Verteidigung gegen das von den Italienern besetzte Libyen. 1940 erfolgt ein Angriff von Libyen aus auf Tunesien, die Italiener müssen ihren Vormarsch aber aufgeben, da inzwischen von Ägypten aus die Briten nach Libyen eindringen.

Die von den Italienern zu Hilfe gerufenen Deutschen unter Feldmarschall Rommel können von Libyen aus bis nach Ägypten vorstoßen, erleben aber im November 1942 eine schwere Niederlage bei El Alamein und ziehen sich auf die Mareth-Linie zurück. Fast zeitgleich landen die Alliierten in Marokko und Algerien und nähern sich Tunesien. Die Deutschen versuchen, im Westen die strategisch wichtigen Bergpässe nach Algerien zu besetzen. Der Widerstand im Land ist gering, Tunesien hat sich offiziell für neutral erklärt, da die damalige Kolonialverwaltung Vichy-treu und somit deutschfreundlich ist.

Die Deutschen können bis weit westlich von Kasserine vordringen, müssen sich dann aber im Februar 1943 unter schwersten Verlusten zurückziehen. Ende März 1943 gelingt es den Commonwealth-Truppen unter General Montgomery, von Libyen her über die Mareth-Linie nach Tunesien einzumarschieren. Am 8. April erobern sie Gabès und vereinigen sich mit den von Algerien her vorgedrungenen Amerikanern. Die Deutschen müssen sich nach Norden zurückziehen, aber ihr Widerstand ist bald zu Ende.

Am 7. Mai nehmen die Alliierten Bizerte und Tunis ein, am 12. Mai kapituliert der Rest des zwischen Hammamet und Zaghouan eingeschlossenen Afrikacorps, dabei geraten 100 000 Deutsche in alliierte Gefangenschaft. Auf tunesischem Boden fallen 8 600 Deutsche (der zentrale Soldatenfriedhof liegt bei Bordj Cedria in der Nähe von Hammam Lif), mindestens genau so viele Alliierte und Zehntausende von Tunesiern.
Der Krieg hinterläßt in Tunesien Zerstörung und ein wirtschaftliches Chaos, das durch eine Hungersnot durch die Dürrejahre 1945 und 1947 weiter verschlimmert wird. Innere Unruhen verstärken den Drang nach Unabhängigkeit.

Die tunesische Unabhängigkeitsbewegung



1920 verbünden sich Großbürgerlich-Liberale mit den traditionalistischen Religionsgelehrten und gründen die Destour (Verfassungs) Partei. Sie stellen zunächst bescheidene Reformforderungen, können sich aber nur auf eine spärliche Basis stützen. Etwas mehr Erfolg hat die 1925 von dem Kommunisten Mohammed Ali gegründete tunesische Gewerkschaft CGTT, übrigens die erste in der arabischen Welt. Aber viele organisierten Streiks werden blutig niedergeschlagen und die CGTT gerät immer wieder in Konflikt mit den französischen Gewerkschaften. Anfang der Dreißiger Jahre wird die Partei verboten und hier ist der eigentliche Beginn der tunesischen Unabhängigkeitsbewegung anzusetzen.
Jetzt tritt Habib Bourguiba auf den Plan, ein 1903 in Monastir geborener und an der Pariser Sorbonne promovierter Rechtsanwalt. Er bricht mit der alten Partei und gründet mit derer radikalen Fraktion zunächst eine Zeitung und dann am 2. 3. 1934 die Neo-Destour unter starkem Einfluß der französischen Sozialisten. Die französische Kolonialverwaltung geht hart gegen die Neo-Destour vor, Partei und Gewerkschaft werden 1937 verboten, Bourguiba wird mehrfach inhaftiert. (1942/43 befreien ihn deutsche Truppen aus einem südfranzösischen Gefängnis, aber Bourguiba lehnt Kooperationsangebote der Nationalsozialisten ab, er propagiert eine Unterstützung der Alliierten). Von 1945-49 geht er ins Exil nach Ägypten und nimmt nach seiner Rückkehr den Freiheitskampf wieder auf.

Ab 1952 kommt es zu Terroraktionen zwischen den Franzosen und den tunesischen Oppositionellen. Ferhat Hached, der antikommunistische Begründer der neuen tunesischen Gewerkschaft UGTT und Hedi Chaker, ein enger Vertrauter Bourguibas, werden ermordet. Streiks, Sabotageakte und Anschläge der tunesischen Untergrundbewegung häufen sich, es folgen französische Militäreinsätze mit Hunderten von Todesopfern. Bourguiba wird erneut verhaftet und von 1952-55 nach Frankreich gebracht. Aber Frankreich hat keine Wahl mehr. Nach der Niederlage in Indochina und dem Beginn des Algerienkriegs muß die Regierung Tunesien die innere Autonomie gewähren. Am 1.6. wird Bourguiba in seiner Heimat triumphal empfangen und am 20. 3. 1956 wird die tunesische Unabhängigkeit offiziell anerkannt.
.
Weiter mit Der neue Nationalstaat